Beinahe 80 Jahre nach der Uraufführung ist Arsen und Spitzenhäubchen längst ein Klassiker, und das birgt durchaus seine Tücken. Schnell wirkt eine Neuauflage wie ein müder Abklatsch oder wie der verzweifelte Versuch, den Stoff gänzlich umzukrempeln. Diese Fallen haben Tanja Beeck, Hawe Kemen und der Literaturkurs 2017 mühelos übersprungen. Die Inszenierung sprüht vor Einfällen, die Besetzung könnte nicht passender sein, die Spielfreude des Ensembles ist unübersehbar. Abgebrüht lassen die zwölf Darsteller keine Pointe liegen und geben dem Publikum kaum Zeit, sich zwischen zwei Lachkrämpfen zu erholen. Kurzum, um den erwähnten US-Präsidenten zu paraphrasieren: Amazing! Just tremendous! So classy!
Rezension von Yannik Simstich
Was soll in diesem entzückenden Haushalt mit der altrosafarbenen Tapete, den golden gerahmten Bildern und den weißen Spitzenvorhängen schon Ungewöhnliches passieren? So einiges! Denn die beiden reizenden, älteren Damen des Hauses haben buchstäblich Leichen im Keller. Davon konnten sich die Zuschauer am 29. Juni und 1. Juli 2017 in der Aula des Rhein-Sieg-Gymnasiums überzeugen.
Arsen und Spitzenhäubchen (im englischen Original: Arsenic and Old Lace) ist ein Klassiker des schwarzen Humors. Joseph Kesselrings Stück, uraufgeführt im Jahr 1941, war ein unmittelbarer Erfolg und wurde diverse Male neu aufgelegt. Unvergessen ist Frank Capras Verfilmung des Stoffes, mit dem legendären Carey Grant in der Hauptrolle des Mortimer Brewster. Eine ideale Wahl also auch für den Literaturkurs der Klasse 11 am Rhein-Sieg-Gymnasium. Schließlich hat das Regieduo aus Tanja Beeck und Hawe Kemen Erfahrung mit schwarzem Humor, erst 2013 verarbeiteten die Barbiere Sweeney und Swaney Todd ihre arglosen Opfer auf der Bühne der Aula zu Pasteten.
Als der Vorhang aufgeht finden sich die Zuschauer im Brooklyn des Jahres 1941 wieder. Hier führen Abby (Hanna Körtge) und Martha Brewster (Charlotte Schwister) ein so vorbildliches Leben, wie es zwei wohlhabende, ältere Damen nur führen können. Das geerbte Vermögen spenden sie gerne für wohltätige Zwecke. Polizei und Klerus geben sich im Haus der gottesfürchtigen Schwestern die Klinke in die Hand. Und nebenbei kümmern sich die beiden auch noch rührend um ihren verwirrten Neffen Teddy (Ania Morawiec), der sich selbst für den 26. US-Präsidenten Theodore Roosevelt hält. Eigentlich ist alles perfekt in der kleinen Welt der Brewsters. Oder es wäre alles perfekt, hätte Neffe Mortimer (Emmanuel Welzel) nicht einen Blick in die Truhe unterm Fenster geworfen und dort den armen Mister Hoskins gefunden – mausetot. Und das ist nicht die einzige Leiche im Haus, denn Mister Hoskins ist bereits das zwölfte Opfer der mörderischen Brewster-Schwestern. Zunächst werden die Herren von ihnen mit vergiftetem Holunderwein umgelegt und anschließend von Teddy im Keller vergraben – all das natürlich nur aus Nächstenliebe und Mitleid um die einsamen Gentlemen. Eine pikante Angelegenheit, die der schockierte Mortimer pflichtbewusst zu vertuschen versucht. Schließlich will er bald seine geliebte Elaine (Marilien Kranich), die Tochter des Pfarrers (Marc Guglielminetti) heiraten. Als dann auch noch der zwielichtige dritte Neffe Jonathan (Niklas Hundenborn) mit seiner Komplizin Doktor Einstein (Alexandra Huft) und ein ganzes Polizeikommando (Jamira Michel, Doriana Prünte, Tien Lam und Ayse Atil) im Brewster-Haus auftauchen gerät die Situation gänzlich außer Kontrolle.
Es ist wahrlich nicht leicht, in die Fußstapfen von Schauspiellegenden wie Carey Grant, Peter Lorre und Jack Carson zu treten. Doch dem zwölfköpfigen Ensemble gelingt das scheinbar ohne große Mühe: Hanna Körtge und Charlotte Schwister brillieren als reizend liebenswerte und zugleich mörderische Brewster-Tanten. Dabei gehen beide auf eine Weise in ihren Rollen auf, dass es schwer fällt, beim Zusehen nicht die Marotten, Floskeln und Kleidungsstile eigener weiblicher Verwandter fortgeschrittenen Alters wiederzuerkennen. Für die größten Lacher sorgt Anja Morawiec in der Rolle des persönlichkeitsgestörten Teddy, etwa wenn er mit einem lauten „Attacke!“ den vermeintlichen Hügel von San Juan erstürmt (in Wahrheit handelt es sich um das Treppenhaus) oder wenn er sich aufmacht, den vermeintlichen Panama-Kanal auszuheben (in Wahrheit verscharrt er die Holunderwein-Leichen im Keller). Und mit langen, wuchtigen Handschlägen und ausladenden Daumen-Hoch-Gesten erinnert die Figur augenzwinkernd auch noch an einen anderen US-Präsidenten als Teddy Roosevelt. Niklas Hundenborn gruselt den Brewster-Haushalt und das Publikum als düsterer Serienkiller Jonathan Brewster, und auch Alexandra Huft liefert als dessen nicht minder zwielichtige Spießgesellin Doktor Einstein eine schauspielerische Glanzleistung. In gleich drei verschiedenen Rollen, als Pfarrer Dr. Harper, Brewster-Opfer Gibbs und Anstaltsleiter Witherspoon, zeigt Marc Guglielminetti seine Wandelbarkeit. Tien Lam und Ayse Atil überzeugen als leichtgläubiges und leicht trotteliges Polizistenduo Brophy und Klein, ebenso wie Jamira Michel als ihre schneidige Vorgesetzte Rooney. Und dann wäre da noch die redselige Polizistin O’Hara, die Dienstmarke und Waffe am allerliebsten für den Beruf einer Drehbuchautorin aufgeben würde. In dieser Rolle landet Doriana Prünte mit jeder Pointe einen Treffer. In einer der köstlichsten Szenen der Inszenierung gelingt es Officer O’Hara, zunächst den Mordversuch Jonathans und Einsteins an Mortimer Brewster zu unterbrechen, diesen dann aber gar nicht zu bemerken und zu guter Letzt Mörder und Opfer gleichermaßen mit dem Plot ihres eigenen unfassbar öden Theaterdrehbuchs einzuschläfern. Inmitten von mordlustigen Tanten, brutalen Cousins, falschen Doktoren, arglosen Polizisten, selbst ernannten Präsidenten und Möchtegern-Drehbuchautoren verzweifelt Emmanuel Welzel – Glanzleistung! – als Theaterkritiker Mortimer Brewster. Ein Glück, dass er allen Eskapaden zum Trotz seine Elaine hat, erstklassig dargestellt von Marilien Kranich.
Als schwarze Komödie wurde die Inszenierung beworben und schwarzen Humor gibt es an den beiden Abenden reichlich. Leichen werden reihenweise erst durchs Fenster gewuchtet, dann in Truhen gestopft und zu guter Letzt im Keller vergraben. Ein Mordkomplott nach dem anderen wird mehr oder weniger zufällig durch die Türklingel, das Telefon, ungeladen hereinplatzende Gäste oder durch Teddys durchdringende Trompete vereitelt. Im Plauderton unterhalten sich die Brewster-Tanten über die Leichensammlung im Keller, die – wie die beiden glaubhaft versichern – nur aus Methodisten, Baptisten und anderen guten Christen besteht. Dort einen „Ausländer“, wie den von Jonathan umgelegten Mister Spenalzo zu beerdigen, kommt für die beiden Schwestern natürlich nicht in Frage. Daneben sind auch die übrigen Elemente der Inszenierung klug und passgenau gewählt, von der Kulisse mit den gemusterten Sitzmöbeln und den holzgetäfelten Wänden über die selbst gemachten Kostüme bis hin zur grandiosen Maske. Letzteres gilt besonders für Doktor Einstein, mit zerzaustem weißen Haar, Schwarzem Lippenstift und tiefdunklem Lidschatten. Und auch die vielfach angesprochene Ähnlichkeit des chirurgisch entstellten Serienmörders Jonathan Brewster mit Frankensteins Monster ist nicht zu leugnen.
Beinahe 80 Jahre nach der Uraufführung ist Arsen und Spitzenhäubchen längst ein Klassiker, und das birgt durchaus seine Tücken. Schnell wirkt eine Neuauflage wie ein müder Abklatsch ohne Ideen und Innovation oder andernfalls wie der verzweifelte Versuch, den Stoff gänzlich umzukrempeln. Diese Fallen haben Tanja Beeck, Hawe Kemen und der Literaturkurs 2017 mühelos übersprungen. Die Inszenierung sprüht vor Einfällen, die Besetzung könnte nicht passender sein, die Spielfreude des Ensembles ist unübersehbar. Abgebrüht lassen die zwölf Darsteller keine Pointe liegen und geben dem Publikum kaum Zeit, sich zwischen zwei Lachkrämpfen zu erholen. Kurzum, um den erwähnten US-Präsidenten zu paraphrasieren: Amazing! Just tremendous! So classy!